Am 10.11.2022 hat der Bundestag das Mindestalter für die Teilnahme an der Europawahl von 18 auf 16 Jahre gesenkt. Für die nächste Europawahl 2024 dürfen in Deutschland künftig nun auch 16- und 17-Jährige ihre Stimme abgeben. Dies ist in einigen anderen europäischen Ländern wie Österreich, Malta und Griechenland bereits seit längerem der Fall. Die Frage nach den Partizipationsmöglichkeiten von Jugendlichen waren gerade in diesem Jahr, welches von der Europäischen Kommission als das „Europäische Jahr der Jugend“, kurz „EJJ“, ausgerufen wurde, ein viel diskutiertes Thema. Wie das „Europäische Jahr der Jugend“ wahrgenommen wurde, was bereits umgesetzt wurde und was unbedingt noch passieren muss, diskutierten im Rahmen des Online-Jugenddialogs Sakiye Boukari, Jugendvertreterin für Deutschland im EU-Jugenddialog des DBJR, Malte Gallée, jüngster deutscher Abgeordneter im Europäischen Parlament, sowie Jörg Wojahn, Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland, mit den Bürgerinnen und Bürgern.
Bevor es in den direkten Austausch mit den 77 Teilnehmenden ging, gab es einen Input von Prof. Dr. Hermann K. Heußner, Vorsitzender der Europa-Union Kassel, der als juristischer Sachverständiger an der einschlägigen Anhörung im Innenausschuss des Bundestages am 10. Oktober beteiligt war. Laut Heußner würden junge Menschen ab 16 Jahren durch den Bundestagsbeschluss in der kommenden Europawahl endlich "das volle politische Existenzminimum bekommen". Dafür sei es die Pflicht von Politik und Zivilgesellschaft auf Landes- wie auf Bundesebene, konkret Werbung für die neuen Partizipationsmöglichkeiten der Erstwähler*innen zu machen und diese durch eine verbesserte Europabildung entsprechend vorzubereiten.
Die Dringlichkeit der Auseinandersetzung mit den politischen Teilhabemöglichkeiten von Jugendlichen in Europa erkennen auch die Expert*innen an. Gerade die Coronakrise und ihre Folgen für die junge Bevölkerung sind ein Auslöser dafür gewesen, dass das „Europäische Jahr der Jugend“ ausgerufen wurde, wie Wojahn berichtet. Dadurch sei die Jugendbeteiligung mehr im Bewusstsein von den Entscheidungsträger*innen verankert worden und Jugendliche seien verstärkt eingebunden worden. Auch 2023 sollen diese Gespräche unter dem Namen „Europäisches Jahr der Aus- und Weiterbildung“ weiter fortgeführt werden. Boukari bestätigt, dass auch sie ein stärkeres Bewusstsein der Probleme von Jugendlichen bei Entscheidungsträger*innen in Brüssel wahrgenommen hat. Jedoch seien die Themen der Jugend noch nicht im „Mainstream“ angekommen. Gallée hingegen ist regelrecht enttäuscht vom „Europäischen Jahr der Jugend“. Weder im öffentlichen noch im politischen Diskurs habe er dieses Thema groß wahrgenommen. Diese Einschätzung teilten auch die Teilnehmenden des Online-Jugenddialogs, die bei einer Online-Umfrage durchschnittlich nur zwei von fünf möglichen Punkten bei der Frage vergaben, wie präsent sie das „EJJ“ wahrgenommen hätten. Chancen sehe Gallée in der europaweiten Abschaffung von unbezahlten Praktika. Dies ist auch, so Wojahn, im Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission verankert.
Auf Nachfrage der Teilnehmenden nach der Verbindlichkeit der EU-Jugendziele, die den inhaltlichen Rahmen des EU-Jugenddialogs des DBJR bilden, erklärt Boukari, dass es keine Verbindlichkeit der Forderungen der Jugendlichen gibt. Diese würden auch nicht über den Dialog selbst hinausgehen und hätten somit auch keinen konkreten Einfluss auf politische Prozesse. Damit sich dieser Umstand ändert, müssten sich politische Entscheidungsträger*innen und junge Menschen auf Augenhöhe begegnen. Momentan werde der Jugend leider oftmals die Expertise abgesprochen. Auch die Einbindungsmöglichkeiten junger Menschen ohne Abitur oder Studium interessiert die Teilnehmenden. Wojahn, der Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland, sieht mögliche Einbindungen durch weitere Konsultationen oder Projekte. Bei den Konsultationen sei aber auch die Europäische Kommission auf die Selbstorganisation der Zivilgesellschaft angewiesen, um die Nichtakademiker*innen zu erreichen. Bei Programmen wie z.B. Erasmus+ müsse die Kommission mehr darauf aufmerksam machen, dass es dies nicht nur für Studierende, sondern auch für Auszubildene gebe. Auch der Europaabgeordnete Gallée sieht großes Potenzial in der Einbindung von allen Bildungsformen in Austauschprogrammen, was essentiell für die Schaffung einer europäischen Identität sei. Doch führt die strukturelle Einbindung der Jugendlichen automatisch zu mehr Jugendpartizipation? Das Absenken des Wahlalters ist laut Gallée ein Beispiel für die Möglichkeit, schon in jungen Jahren sein politisches Potenzial entfalten zu können und das eigene Weltbild schon früh politisch zu formen und sich sozial und politisch zu beteiligen. Die notwendige Absenkung des Wahlalters betont ebenfalls Boukari, die Jugendvertreterin im EU-Jugenddialog. Das sei eine gute Chance, auch an Schulen darüber auf praktischem Weg aufzuklären, was Demokratie ist und was Wählen eigentlich für die Jugendlichen bedeutet. Schließlich sei es ein Fakt, so Wojahn, dass durch die demografische Realität die älteren Wähler*innen für die junge Wählerschaft entscheiden würde. Daher müsse nicht nur mehr jüngeren Menschen das Wahlrecht erteilt werden, sondern es sei noch viel wichtiger, dass die ältere Wählerschaft die Forderungen und Wünsche der Jugendlichen noch mehr in die Praxis miteinbeziehe. Die Kommission habe das dieses Jahr verstärkt getan. Jugendbeteiligung wurde nicht nur mehr ins Bewusstsein der Entscheidungsträger*innen gebracht, sondern junge Menschen wurden auch verstärkt konsultiert bei Entscheidungen als bisher. Es gab ein breites Förderprogramm, durch das speziell Jugendprioritäten gefördert wurden und bei dem mit 130 Jugendorganisationen zusammengearbeitet wurde.
Zum Schluss wurde die Frage nach konkreten Vorschlägen für Maßnahmen gestellt, durch welche die jungen Menschen mehr Gehör in der EU finden würden. Boukari sieht neben der Absenkung des Wahlalters eine Chance in der Steigerung des Bekanntheitsgrades von bestimmten Möglichkeiten für die Jugendpartizipation und würde sich freuen, wenn Jugendliche noch mehr in den Parlamenten integriert werden. Wojahn benennt ebenfalls die Zunahme junger Menschen in den Parlamenten und führt eine noch stärkere Beteiligung junger Menschen in zivilgesellschaftlichen Organisationen und friedlichen proeuropäischen Demonstrationen an. Gallée stimmt dem zu und betont, dass sich junge Menschen mit lauter Stimme für ihre eigenen Forderungen aktiv stark machen müssen, um politische Entscheidungsträger*innen zu erreichen. Dazu gehöre vor allem der Mut, sich auch politisch zu engagieren, z.B. in einer Partei.
Moderiert wurde die Veranstaltung von Clara Föller, Bundesvorsitzende der Jungen Europäischen Föderalisten (JEF) Deutschland. Kurze Meldungen und Fotos live vom Online-Jugenddialog finden Sie auf unseren Kanälen in den sozialen Medien auf Twitter, Facebook und Instagram. Zu der Aufzeichnung der Veranstaltung gelangen Sie hier.
Der Online-Jugenddialog fand im Rahmen des Bürgerdialogprojekts „Europa – Wir müssen reden!“ in Kooperation mit den Jungen Europäischen Föderalisten (JEF) Deutschland statt und wurde durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung gefördert. Eine Übersicht über bevorstehende Veranstaltungen finden Sie hier.